Der Mythos vom Big Point – oder gibt es ihn wirklich?

Autor: Darko Jekauc

Sind alle Punkte in einem Match gleich viel wert, oder gibt es solche, die wichtiger sind als andere, in engen Spielen über Sieg oder Niederlage entscheiden? Sportpsychologe Darko Jekauc und DTB-B-Trainer Philipp Heger haben sich des Themas kritisch angenommen. Nach ihrer Analyse sind sie überzeugt: Es gibt sie, die so genannten Big Points.

 

Die derzeit dominierende Lehrmeinung des DTB geht davon aus, dass es keine Big Points im Tennis gibt. Wir setzen uns im Rahmen von drei Artikeln kritisch mit dieser Lehrmeinung auseinander. In einem ersten Artikel untersuchen wir die Fragestellung, ob Big Points tatsächlich im Tennis existieren. Dabei betrachten wir taktische Argumente und Statistiken der Weltklassespieler. In einem zweiten Artikel schauen wir uns die psychologischen Prozesse an, die bei Big Points ablaufen. In einem dritten Beitrag geben wir praktische Tipps, wie man aus psychologischer Sicht das Training von Big Points gestalten könnte.

Ein Spiel mit vielen Wendungen

 

Es ist ein zähes Spiel mit langen Ballwechseln. Im Halbfinale von Doha 2017 liefert sich Fernando Verdasco ein Spiel auf Augenhöhe mit Novak Djokovic. Bis zum Spielstand von 3:2 im ersten Satz für Djokovic können beide Spieler eigene Aufschläge halten. Doch dann gelingt Djokovic das wichtige Break zum 4:2. Es sieht so aus, als ob Djokovic alles unter Kontrolle hätte und das Match sicher nach Hause schaukeln würde. Als ob Magie am Werke wäre, kippt das Match nun ganz unerwartet. Mit dem Mut der Verzweiflung nimmt Verdasco im anschließenden Aufschlagspiel von Djokovic Risiko in Kauf und erzwingt mit harten Vorhandschlägen einige Fehler von Djokovic. Das Re-Break schafft er zu Null. Er wirkt energiegeladen und voller Zuversicht auf dem Platz. Das Publikum ist entzückt vom Spiel. Nun setzt Verdasco seinen Lauf fort und gewinnt die drei anschließenden Spiele in Folge. Er nimmt Djokovic das Aufschlagspiel sogar wieder zu Null ab und holt sich den Satz mit 6:4. Einen solchen Verlauf hätte wohl niemand erwartet.

 https://www.blick.ch/sport/tennis/atp/verdasco-fernando-djokovic-novak-id6042690.html
Fernando Verdasco gratuliert Novak Djokovic. Quelle: REUTERS

Im zweiten Satz wirkt Verdasco entspannt und angriffslustig. Es ist jedoch ein ausgeglichener Satz, bei dem jedes Spiel stark umkämpft ist. Folgerichtig geht es in den Tiebreak. Mit einem Mini-Break erwischt Djokovic wieder den besseren Start zum 2:1. Doch dann passiert wie im ersten Satz das kaum Fassbare. Verdasco gewinnt fünf Punkte in Folge mit zwei Mini-Breaks und hat nun bei einem Spielstand von 6:2 vier Matchbälle. Es wäre wohl erneut ein großer Sieg in der Karriere des 33-jährigen Spaniers, der zu dem Zeitpunkt auf Platz 42 der Weltrangliste steht. Die Buchmacher haben ihm vor dem Match lediglich eine Siegchance von ca. 10 % eingeräumt. Außenseiter Verdasco ist nur noch einen Punkt vom Einzug ins Finale entfernt. Den ersten Matchball wehrt Djokovic mit einem guten Aufschlag und anschließend mutig gespieltem Angriffsball ab. Es sind noch drei Matchbälle für Verdasco. Beim zweiten Matchball beim Spiel-stand von 6:3 platziert Verdasco einen harten Aufschlag auf die Rückhand von Djokovic und versucht mit einer harten Vorhand den zu kurz gekommenen Rückschlag direkt zu verwandeln. Wenn die Vorhand gelingt, wäre es nun das Ende. Verdasco hätte das Match völlig verdient mit 8 Punkten Vorsprung gewonnen. Es kommt jedoch ganz anders. Die Vorhand erwischt er mit dem Rahmen und der Ball geht weit ins Aus. Jeder im Publikum spürt die Spannung. Einige spanische Fans halten vor lauter Aufregung die Hände an den Kopf. Auch die beiden Spieler wirken sehr nervös. Die Punkte werden von beiden Spielern wie mit angezogener Handbremse sehr verhalten ausgespielt, wobei Djokovic in den langen Duellen das bessere Händchen beweist und den Tiebreak mit 9:7 für sich entscheidet.

Im dritten Satz wirkt Verdasco sichtlich angeschlagen. Die Nervosität, die im Tiebreak vorhanden war, ist zwar verflogen, aber die Körperspannung ist kaum mehr vorhanden. Das Anfeuern bleibt komplett aus. Es liegt regelrecht in der Luft, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis Verdasco einbricht. Beim Spielstand von 2:2 gelingt Djokovic endlich das Break und der Widerstand von Verdasco bricht komplett zusammen. Schließlich gewinnt Djokovic den dritten Satz mit 6:3 und hat am Ende insgesamt 8 Punkte mehr gewonnen als Verdasco.

Was ist ein Big Point?

 

Wie wir in diesem Beispiel zeigen konnten, ist es Djokovic in der Endphase des Tiebreaks gelungen, die wichtigen Punkte für sich zu entscheiden, was den Verlauf des gesamten Matches stark und nachhaltig beeinflusst hat. Solche matchentscheidenden Punkte nennt man in der Fachsprache des Tennissports Big Points. Sie repräsentieren die wichtigen Punkte eines Matches, die einen großen Einfluss auf den Ausgang des gesamten Matches haben. Nur mit großem Aufwand lassen sich die Konsequenzen eines verlorenen Big Points kompensieren. Für Verdasco hat das in diesem Beispiel bedeutet, dass die nicht verwandelten Matchbälle und der verlorene Tiebreak nur mit einem Gewinn des dritten Satzes hätten kompensiert werden können. Der Gewinn eines gesamten Satzes ist im Vergleich zum Gewinn eines einzelnen Punktes ein enormer Aufwand, der sich auch auf die Psyche des Spielers auswirkt. Nicht selten sind Big Points auch die Wendepunkte des gesamten Matches. Viele Spieler glauben, dass die Big Points gerade bei engen Spielen einen großen Effekt haben. Das können Satz-, Match-, Breakbälle oder sonstige psychologisch wichtige Punkte sein. Die Existenz der Big Points ist jedoch nicht unumstritten.

 

Gibt es Big Points wirklich oder sind sie nur eine Fiktion?

 

Auch wenn unter den Spielern die Überzeugung besteht, dass Big Points im Tennis existieren, bezweifeln einige Experten ihre Existenz. Die dominierende Lehrmeinung des Deutschen Tennisbundes ist sogar, dass es sich hierbei eher um einen leistungsmindernden Aberglauben handelt. Im Band 1 des Tennis-Lehrplans stellen die Autoren fest: „Umfangreiche Statistiken beweisen, daß die Theorien der wichtigen Punkte (»big points«) und der entscheidenden Spielstände (»das siebente Spiel«) kaum aufrechterhalten werden können“ (DTB, 2001, S. 58). Schönborn, als schärfster Verfechter dieser These, untermauert die Behauptung damit, „dass derjenige Spieler, der die Mehrzahl der Punkte im Match erreicht, in 99 % auch das Match gewinnt„ (Schönborn, 2012, S. 104). Deshalb sollte jeder Punkt als gleich wichtig genommen werden. Darüber hinaus gehen die Autoren des DTB-Lehrplans davon aus, dass sich der Glaube an die Big Points aus psychologischer Sicht negativ auf die Leistung auswirkt (DTB, 2001, S. 58). Dieser Glaube setzt die Spieler lediglich unter Druck und lässt sie ängstlich agieren.

 

Auch wenn diese Lehrmeinung eine gewisse Scheinplausibilität aufweist, stellen wir sie in zweifacher Hinsicht in Frage. Erstens beruht der Beweis anhand von umfangreichen Statistiken auf einer Fehlinterpretation der statistischen Ergebnisse. Wir werden anhand von eigenen statistischen Analysen hingegen zeigen, dass durchaus Indizien für die Existenz von Punkten mit herausragender Bedeutung für den Ausgang eines Matches vorliegen. Zweitens stellen wir heraus, dass die Leugnung der Big Points keine angemessene Strategie im Umgang mit Druck darstellt. Vielmehr sollte das Training von Big Points unserer Meinung nach ein Bestandteil des psychologisch orientierten Trainings auf dem Tennisplatz darstellen. Um unsere Position zu verdeutlichen, postulieren wir drei Thesen:

 

1.      Big Points sind taktisch begründet.

2.      Big Points haben eine psychologische Bedeutung.

3.      Der Umgang mit Big Points kann trainiert werden.

 

Diese drei Thesen repräsentieren die drei Hauptargumente, weshalb Big Points im Tennis bedeutsam sind. In drei aufeinander aufbauenden Artikeln werden wir die drei Thesen einzeln behandeln. In diesem ersten Artikel werden wir die taktische Bedeutung von Big Points und statistische Hinweise auf ihre Existenz herausarbeiten. Dabei werden wir uns mit den Argumenten der Gegenposition kritisch auseinandersetzen. Aufbauend auf den Überlegungen zur taktischen Bedeutung der Big Points werden wir im zweiten Artikel psychologische Aspekte beleuchten. Im dritten Artikel werden wir Ansatzpunkte aufzeigen, wie Big Points trainiert werden können.

Big Points sind taktisch begründet

 

Aus dem Reglement des Tennisspiels geht hervor, dass derjenige Spieler, der mehr Sätze gewonnen hat, zwangsläufig auch das gesamte Match gewinnen muss. Satzgewinne haben dadurch einen großen Einfluss auf den Ausgang des gesamten Matches. Eines der logischen Ziele des Tennisspiels ist es daher, möglichst viele Sätze zu gewinnen. Aus dieser Perspektive stellen die Satzbälle wichtige Punkte im gesamten Match dar. Gerade in engen Matches wird sich der Spieler durchsetzen, der seine Satzbälle erfolgreich verwandelt. Aufbauend auf diesen Überlegungen sind Satzbälle in engen Matches (Sätzen) immer auch Big Points, da sie das Ende eines Matchabschnitts darstellen. Nur mit großem Aufwand lassen sich die Konsequenzen des Satzverlustes kompensieren. Eine besondere Form der Satzbälle stellen die Matchbälle dar. Sie haben eine noch größere Bedeutung als Satzbälle, da sie das Ende des gesamten Matches repräsentieren. Wer in seiner Karriere schon mal solche Matches erlebt hat, in denen man Matchbälle hatte und das Match am Ende dann doch noch verloren hat, weiß, wie verheerend sich das auf die Psyche auswirken kann. Bei glatten Matches (z. B. 6:1, 6:0) haben die Satz- und Matchbälle keine derart große Bedeutung.

 

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Der Serbe ist sichtlich erleichtert. Quelle: AP

Eine weitere Notwendigkeit des Reglements ist, dass derjenige Spieler, der mehr Spiele (inklusive Tiebreak) in einem Satz gewinnt, zwangsläufig auch der Sieger des Satzes ist. Deshalb ist ein weiteres logisches Ziel, möglichst viele Spiele in einem Satz zu gewinnen. Die Verteilung der Spiele in einem Satz verläuft häufig nach einem Muster. Bei Männern und auf schnellen Belägen kann der Aufschlag z. B. als ein Mittel eingesetzt werden, um die eigenen Aufschlagspiele zu gewinnen. Häufig bedeutet das Verlieren des eigenen Aufschlagspiels auch den Satzverlust. In solchen Spielen, in denen der Aufschlag einen großen Einfluss auf Spielgewinne hat, sind Breakbälle auch immer Big Points. Denn der Verlust des eigenen Aufschlagspiels kann nur mit geringer Wahrscheinlichkeit und vergleichsweise größerem Aufwand ausgeglichen werden. Im Frauentennis und auf langsamen Belägen nimmt die Bedeutung des Aufschlags ab, was sich auch auf die Bedeutung von Breakbällen auswirkt.

 

Eine weitere entscheidende Phase eines Matches stellt der Tiebreak dar. Hier wird der Ausgang des Satzes entschieden. Hinsichtlich des Tiebreaks kann man sagen, dass fast jeder Punkt eine hohe Bedeutung hat. In der Endphase des Tiebreaks ist bei einem ausgeglichenen Spielstand jeder Punkt auch ein Big Point. Der Verlust des Tiebreaks kann nur mit einem großen Aufwand – d. h. mit dem Gewinn des nächsten Satzes – egalisiert werden. Das Gleiche gilt auch für den Match-Tiebreak, der in manchen Wettbewerben als Ersatz für den dritten Satz ausgespielt wird. In manchen Wettbewerben wird auch die No-Ad-Regel angewendet. Dabei wird beim Einstand ein entscheidender Punkt ausgespielt. Diese Änderungen der Zählweise im Tennis zielen auf eine Verkürzung des Tennismatches ab und werden zwangsläufig zu einem Anstieg der Big Points führen. Womöglich wird sich dieser Trend im Tennis weiter verstärken, weshalb der Umgang mit Big Points noch bedeutender sein wird.

Statistische Analysen von Big Points

 

Die Autoren des DTB-Lehrplans stützen sich auf statistische Analysen, um die Nicht-Existenz von Big Points zu beweisen. Allen voran berichtet Schönborn (2012) in seinem Buch Strategie und Taktik im Tennis", dass „Statistiken von Tausend und Tausend Matches im amerikanischen Computer Charting zeigen, dass derjenige Spieler, der die Mehrzahl der Punkte im Match erreicht, in 99 % auch das Match gewinnt“ (Schönborn, 2012, S. 104). Anhand dieser Statistik wird geschlussfolgert, dass jeder Punkt gleich wichtig ist und dass Big Points nicht existieren. Diese Schlussfolgerung ist unserer Meinung nach aus zweifacher Hinsicht unzulässig, wie wir im Folgenden erläutern werden. Erstens handelt es sich hier um eine Fehlinterpretation der Statistik. Zweitens haben wir einen Grund zur Annahme, dass die von Schönborn (2012) angegebene Statistik für das heutige Tennis nicht repräsentativ ist. Im Folgenden werden wir diese Punkte erläutern.

Fehlinterpretation der Statistiken

Aus einer Statistik, die den Zusammenhang zwischen der Anzahl der gewonnenen Punkte und des Gewinnens des gesamten Matches repräsentiert, lässt sich nach den Regeln der Logik nicht ableiten, dass jeder Punkt gleich wichtig ist. Ein hoher Zusammenhang sagt nichts über die Ursache und Wirkung aus. Auch wenn die Statistik 100 % statt 99 % betragen würde, wäre sie weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für das Gewinnen des Matches. Wie wir beim Match von Verdasco gegen Djokovic gesehen haben, führte Verdasco im Tiebreak beim Stand von 6:2 mit 8 Punkten Vorsprung. Hätte er seine Chance beim Spielstand von 6:3 zum 7:3 und somit zum Matchgewinn verwandelt, wäre er mit 8 Punkten Vorsprung der Sieger des gesamten Matches gewesen. Allerdings hat er die Big Points nicht gewonnen und Djokovic ging hingegen mit 8 Punkten Vorsprung als Sieger vom Platz. Nach der Interpretation von Schönborn (2012) wäre seine These bestätigt, wenn Verdasco die Vorhand beim Spielstand von 6:3 im Tiebreak verwandelt hätte, da er die Mehrzahl der Punkte erzielt hat. Nun ist das Gegenteil eingetreten und Djokovic hat das Match mit 8 Punkten Vorsprung gewonnen. Das bestätigt auch die Hypothese von Schönborn. In beiden Fällen hätte man die Schlussfolgerung gezogen, dass es keine Big Points gibt, da der Spieler mit der Mehrzahl an Punkten gewonnen hat. Wenn sowohl ein Endergebnis (Verdasco gewinnt) als auch das Gegenteil von diesem Endergebnis (Verdasco verliert) zur Bestätigung der Hypothese führen, muss es sich um einen logischen Fehler bei der Interpretation der Statistik handeln. Im Allgemeinen lässt sich festhalten, dass diese Statistik nicht dazu taugt, irgendetwas zu beweisen. Sie kann höchstens als ein "schwacher Indikator" gewertet werden.

Dieser schwache Indikator wird nur dann den zukünftigen Sieger des Matches zuverlässig vorhersagen, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind. Erstens darf es sich nicht um ein sehr enges Match handeln, in dem wenige Punkte den Unterschied ausmachen. Bei glatten Matches, also bei solchen, die 6:3 6:3 oder glatter ausgehen, kann der Verlierer des Matches nicht einmal theoretisch mehr Punkte erzielen als der Gewinner. Auch dann, wenn der Verlierer seine gewonnenen Spiele alle zu Null verwandelt und seine verlorenen Spiele zu 30 oder über Einstand verliert, kann er bei einem Ergebnis von 6:3 6:3 höchstens gleich viele Punkte gewinnen wie der Sieger. Je enger das Spiel ist, umso schwächer ist der Zusammenhang vom Ausgang des Matches und der Anzahl der gewonnenen Punkte.

 

Zweitens muss es sich bei engen Matches um einen monotonen Spielverlauf handeln, in dem ein Spieler über weite Strecken das Match dominiert. Wenn z. B. ein Spieler mit jeweils einem Break pro Satz, ohne dabei selbst Breaks zu bekommen, die beiden Sätze 6:4 6:4 gewinnt und die restlichen Spiele umkämpft bleiben, dann kann die Mehrheit der Punkte ein guter Indikator für den Ausgang des Matches sein. Wenn jedoch in einem Match ein oder mehrere markante Wendepunkte auftreten, in denen sich die Dominanz eines Spielers (z. B. beim Erzielen mehrere Punkte oder Spiele in Folge) umkehrt, dann ist die Mehrheit der Punkte wieder ein relativ unzuverlässiger Prädiktor des Ausgangs des Matches. Im heutigen Tennis können Wendepunkte relativ häufig in einem Match beobachtet werden. Beim Match Djokovic gegen Verdasco gab es gleich drei markante Wendepunkte des Matches. Der erste markante Wendepunkt war im ersten Satz beim Spielstand von 4:2 für Djokovic, als Verdasco vier Spiele in Folge gewinnt und damit den ersten Satz zu seinen Gunsten dreht. Der zweite markante Wendepunkt war zu Beginn des Tiebreaks im zweiten Satz, als Djokovic mit einem Minibreak 2:1 führt und dann fünf Punkte in Folge abgibt. Anschließend kommt der dritte markante Wendepunkt, bei dem Djokovic das Tiebreak erneut zu seinen Gunsten dreht. Je häufiger solche markanten Wendepunkte in einem Match auftreten, umso schwieriger ist es, den Sieger statistisch zu ermitteln.

Aktuelle Statistiken

Neben dieser Fehlinterpretation der Statistik haben wir Grund zur Annahme, dass die von Schönborn (2012) angegebene Statistik nicht repräsentativ für das heutige Weltklassentennis ist. Vielmehr zeigt sich, dass der Anteil der Matches, in denen der Verlierer mehr Punkte gewinnt als der Sieger, viel höher ausfällt. Nach unseren eigenen Analysen gewinnt bei den Männern auf der ATP-Tour nur in 93,4 % der Matches der Spieler mit den meisten Punkten das Match[1] und bei Frauen sind es 95,7 %. Dieser Prozentsatz liegt deutlich unter dem von Schönborn (2012) angegebenen Wert. Es ist dabei zu betonen, dass in 26,7 % der Matches der Männer und 38,3 % der Matches der Frauen das Ergebnis so glatt (z. B. 6:3 6:3 oder glatter) war, dass der Verlierer nicht einmal eine theoretische Chance auf die Mehrzahl der Punkte hatte. Bei knappen Matches fällt dieser Prozentsatz sogar noch niedriger aus. In Dreisatzmatches erzielt der Gewinner des Matches nur in 82,7 % der Fälle bei Männern und in 88,2 % bei Frauen mehr Punkte als der Verlierer. Je enger das Match ist, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Gewinner mehr Punkte erzielt als der Verlierer. Bei den knappen Matches, in denen der Gewinner nur ein Spiel mehr gewonnen hat als der Verlierer, erzielt der Gewinner in nur zwei von drei Matches auch mehr Punkte. Kommt es sogar zu einem Gleichstand bezüglich der Spiele, gewinnt der Sieger in nur 51,4 % (ATP) bzw. 54,0 % (WTA) der Matches mehr Punkte.

 

Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass es nicht nur darum geht, möglichst viele Punkte zu erzielen sondern vor allem darum, möglichst viele Spiele und Sätze zu gewinnen. Das stimmt mit den Überlegungen zur taktischen Bedeutung einzelner Punkte überein. Somit haben in engen Matches Spiel-, Break-, Satz- und Matchbälle eine größere Bedeutung als Punkte am Anfang eines Spiels oder eines Satzes. Bei verlorenen Big Points kann man nur mit einem vergleichsweise hohen Aufwand diesen Verlust wettmachen. Möglicherweise haben die Big Points sogar einen Einfluss auf die Karriere der Tennisspieler. Diese These lässt sich nun anhand der Under-Pressure-Statistiken überprüfen.

Under-Pressure-Statistiken

Die Ergebnisse der Under-Pressure-Statistiken, die auf der Seite der ATP (www.atpworldtour.com) geführt werden, verdeutlichen ebenfalls, dass das Gewinnen von bestimmten Punkten im Match eine herausragende Bedeutung im Weltklassentennis hat. Dieser Index wird als die Summe folgender vier relativen Häufigkeiten berechnet: 1) Prozentsatz der verwandelten Breakbälle, 2) Prozentsatz der abgewehrten Breakbälle, 3) Prozentsatz der gewonnenen Tiebreaks und 4) Prozentsatz des gewonnenen entscheidenden Satzes. Drei der vier Indikatoren stehen in Zusammenhang mit den Big Points. Der Under-Pressure-Index unterliegt bei Betrachtung über kürzere Zeiträume großen Schwankungen. Wenn man aber den Index über die gesamte Karriere betrachtet, zeigt sich ein deutliches Bild. Auf den ersten fünf Plätzen rangierten im September 2017 folgende Spieler: 1. Novak Djokovic, 2. Pete Sampras, 3. Rafael Nadal, 4. Roger Federer und 5. Andy Murray. Diese herausragenden Spieler, die die vergangenen 25 Jahre die Tennisszene dominiert haben, haben eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit wichtige Punkte zu gewinnen als durchschnittliche Spieler auf der Tour. Womöglich hat ihnen diese Abgeklärtheit geholfen, die Weltspitze zu erklimmen.

Novak Djokovic
Novak Djokovic
Pete Sampras
Pete Sampras
Rafael Nadal
Rafael Nadal

Insgesamt stützen die Analysen dieser Statistiken die These, dass die Leistungsunterschiede in der Weltspitze sehr gering sind. Wenige Punkte entscheiden über Sieg und Niederlage. Das sind nicht beliebige Punkte, sondern Punkte, die in taktisch wichtigen Phasen des Matches wie im Tiebreak oder bei Breakbällen auftreten. Es scheint, dass sich die weltbesten Spieler dadurch auszeichnen, dass sie mit überdurchschnittlich hoher Wahrscheinlichkeit diese wichtigen Punkte bzw. Big Points für sich entscheiden können. Es handelt sich hierbei um psychische Stabilität (bzw. mentale Stärke), die den Unterschied zwischen einem durchschnittlichen Profi und den besten Spielern der Welt ausmacht. Welche psychologischen Prozesse bei Big Points auftreten und was die psychische Stabilität bei solchen Big Point ausmacht, werden wir in der nächsten Ausgabe darlegen.

Fazit

 

Im Rahmen dieses Beitrags haben wir uns mit der dominierenden Lehrmeinung des DTB auseinandergesetzt, dass es im Tennis keine Big Points gibt und jeder Punkt gleich wichtig ist. Wir haben nun anhand von taktischen Überlegungen und neuesten Statistiken der Weltranglistenspieler zeigen können, dass diese Lehrmeinung unzulänglich ist und revidiert werden muss. Auch aus psychologischer Sicht stimmt diese Lehrmeinung nicht mit wissenschaftlichen Erkenntnissen überein, wie wir in der nächsten Ausgabe darstellen werden. Im Weltklassetennis scheint die Leistungsdichte groß zu sein, wodurch einzelne Punkte in entscheidenden Situationen des Matches immer wichtiger werden. Die weltbesten Spieler zeichnen sich dadurch aus, dass sie eben genau diese kritischen Situationen erfolgreich bewältigen.

 

In der griechischen Mythologie ist Kairos der Gott des günstigen Augenblicks. Er erscheint nur für kurze Zeit und wenn man ihn nicht beim Schopf gepackt hat, ist er gleich unwiederbringlich verschwunden. Die alten Griechen glaubten, dass es sich rächen wird, wenn man seine Gelegenheit nicht beim Schopfe packt. Verdasco ist wohl eines von vielen Opfern von Kairos geworden. Wer hätte gedacht, dass die alten Griechen schon damals um die Wichtigkeit der Big Points Bescheid wussten.

 

 

 


[1] Unsere Schätzungen basieren auf einer Stichprobe von 1.987 Matches von Herren und 2343 Matches von Frauen, die in 34 ATP-Turnieren (inklusive Qualifikationen) und 32 WTA-Turnieren zwischen Januar 2017 und September 2017 gespielt wurden. Bei Herren wurde insgesamt bei 17 Turnieren (13 bei Frauen) auf Sandplatz, bei 9 Turnieren (13 bei Frauen) auf Hartplatz und bei 8 Turnieren (6 bei Frauen) auf Rasen gespielt. Um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten, haben wir nur die Ergebnisse der Matches, die im Modus Best-of-Three gespielt wurden, in die Analyse aufgenommen. In Qualifikationsrunden von Wimbledon und Roland Garros wurde der dritte Satz ohne Tiebreak entschieden. In allen anderen Matches kam auch in Satz 3 der Tiebreak zur Anwendung. Die Daten wurde der ATP/WTA Live App sowie den offiziellen Datenbanken der ATP (www.atpworldtour.com) und WTA (www.wtatennis.com) entnommen.